Was uns die Krise lehrt
Noch vor wenigen Wochen hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe festgehalten, dass die Autonomie des Menschen ein unendlich hohes Gut sei, das es in jedem Fall zu respektieren gelte. Bis hin zum selbstbestimmten Abschied aus diesem Leben. Der assistierte Suizid wurde de facto zu einem Grundrecht erklärt, Ärzte dafür gerügt, dass sie dabei nicht ausreichend Hilfestellung leisteten.
Heute erleben wir eine Welt, in der die Autonomie des Menschen nahezu abgeschafft worden ist. Vieles von dem, was uns als soziale Wesen ausmacht, geht nicht mehr: Freunde treffen oder einladen, gemeinsame Unternehmungen, Besuche im Restaurant, Kino oder Theater, nicht einmal das gemeinsame Arbeiten am Arbeitsplatz sind jetzt möglich. Angesichts der Pandemie machen die Menschen bereitwillig mit: aus Solidarität mit denjenigen, die es treffen könnte, für die die Krankheit tödlich verlaufen könnte.
Covid-19 betrifft vor allem die Bevölkerungsgruppe, für die das Bundesverfassungsgericht um eine Lockerung oder Abschaffung des §217 angerufen wurde: alte Menschen mit teils gravierenden Vorerkrankungen. Diese, so die Logik der Bundesverfassungsrichter, müssten ein Recht auf selbstbestimmtes Lebensende haben.
Für genau diese Menschengruppe, angesichts deren vermuteten mangelnden Lebenswillen das Bundesverfassungsgericht die umfassendste Neudefinition dessen vorgenommen hat, was der Artikel 1 des Grundgesetzes besagt, begibt sich eine Gesellschaft in kollektive Isolation und verzichtet auf ihr Recht auf Selbstbestimmung. Um deren Leben zu retten, sind wir bereit, ungeahnte und – seien wir ehrlich – bis vor wenigen Wochen auch für völlig unmöglich gehaltene Opfer zu bringen.
Ich wünsche mir, dass wir diese Solidarität nicht plötzlich nach der Krise ablegen, sondern umwandeln in Zuspruch, Hilfe und palliative Versorgung dieser Patienten. Autonomie ist nicht alles. Aber ohne Menschenwürde und Respekt vor dem Leben ist alles nichts.