Ein unglaubliches Verbrechen
Der Chirurg Andreas Weber, ehemals Mitglied eines chirurgischen Einsatzteams zur Organexplantation der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), engagiert sich gegen Organraub, den es vor allem in China, aber auch an anderen Orten der Welt gibt. Mit Weber sprach für »LebensForum« Cornelia Kaminski.
Wir dokumentieren hier ausnahmsweise das gesamte Interview.
LebensForum: Herr Weber, Sie sind Deputy Director in Europa für Doctors Against Forced Organ Harvesting (DAFOH). Diese NGO befasst sich mit dem Problem des Organraubs weltweit – wie kam es dazu, dass Sie sich hier engagieren? Haben Sie selbst berufliche Erfahrungen in diesem Bereich?
Andreas Weber: Zunächst einmal möchte ich gerne die Unterschiede zwischen Organspende, Organhandel und Organraub erläutern. Die Organspende, wie wir sie hier in Deutschland kennen, basiert auf einem altruistischen System, in welchem der Spender zuvor der Organentnahme zugestimmt haben muss. Im Endeffekt entscheiden jedoch die nächsten Angehörigen, ob die tatsächliche Entnahme der Organe stattfinden darf. Beim Organhandel kann ein Spender freiwillig, beispielsweise ein Leberteilsegment oder eine Niere, gegen Bezahlung spenden. Es werden keine vitalen, also zum Überleben notwendigen Organe entnommen. Der Organspender überlebt diesen Prozess. Beim Organraub, wie er in China staatlich organisiert stattfindet, wird ein Mensch vorsätzlich getötet, damit seine Organe gegen Profit verkauft werden können. Das stellt ein unglaubliches Verbrechen dar! Es steht im krassen Gegensatz zum hippokratischen Eid und allem, welchem sich ein Arzt verpflichtet fühlen sollte. Nämlich alles zum Wohle seiner Patienten zu tun, um Leid zu mindern, Leben zu erhalten und Leben zu retten! Als Arzt habe ich mich beim Thema Organraub sofort angesprochen gefühlt. Es ist schwer, als mitfühlender Mensch solch ein Verbrechen gegen die Menschenwürde einfach hinzunehmen und zu ertragen, insbesondere wenn man die Möglichkeit hat, etwas dagegen zu unternehmen und darüber aufzuklären. Zudem bin ich ehemaliges Mitglied eines chirurgischen Einsatzteams zur Organexplantation der DSO (Deutsche Stiftung Organtransplantation) und habe dadurch tiefe Einblicke in das Organspendesystem erhalten, welches durch Eurotransplant organisiert wird. Unter anderem habe ich auch Teams im Rahmen der Organverteilung (Organ-Allokation) und -entnahme im Telefondienst organisieren müssen. Ich kenne die Organspende also aus mehreren Perspektiven und weiß daher aus Erfahrung, was Organspende für Betroffene auf allen Seiten bedeutet. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als ich erstmals mit Organraub konfrontiert wurde. Die Vorstellung, bei lebendigem Leib die Organe entnommen zu bekommen, ist die größte Angst nicht nur für das Opfer, sondern auch für die Angehörigen.
Was genau ist DAFOH? Was sind die Ziele?
DAFOH wurde von Ärzten im Jahr 2006 gegründet, als die ersten Nachrichten veröffentlicht wurden über den Organraub in China an inhaftierten Falun-Gong-Praktizierenden, welche für ihre Werte Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Nachsicht verfolgt werden . Als Nicht-Regierungsorganisation wollen wir Ärzte die Öffentlichkeit und Politiker informieren, um diesem Verbrechen gegen die Menschenwürde ein Ende zu setzen.
Was treibt die Mitglieder und Mitarbeiter von DAFOH an – was sind die Beweggründe für ihre Arbeit?
Berufliche Verantwortung, um medizinischen Missbrauch zu stoppen und ethisches Handeln im Gesundheitswesen aufrechtzuerhalten. Jeder bei DAFOH arbeitet pro bono, also ehrenamtlich, und wir alle werden von der Leidenschaft und dem Wunsch angetrieben, das Verbrechen des Organraubes zu stoppen und Menschen, sowohl im Gesundheitswesen Handelnde als auch Patienten, davor zu bewahren, Komplizen dieses Verbrechens zu werden. Ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit liegt in China. In vielen Ländern gibt es die Möglichkeit, sich durch einen Organausweis als Organspender registrieren zu lassen, in anderen gibt es die Möglichkeit, dies auf dem Führerschein zu vermerken, so zum Beispiel in den USA, wo auf diese Weise 140 Millionen Organspender registriert sind.
Wie ist das System in China, und wie sind hier die Zahlen?
In Asien ist es aufgrund der Kultur Tradition, keine Organe zu spenden. Die Menschen in Asien und China zögern, ihre Organe zu spenden. Das beruht auf der Philosophie von Konfuzius, wonach der Körper beim Sterben in seiner unversehrten Ganzheit erhalten sein soll. Das erste Organspendesystem in China startete 2013. Die Zahlen waren gering, nur ein paar Tausend. Im Jahr 2017 gab es 400.000 registrierte Organspender. Bis heute stieg die Zahl auf ca. drei bis vier Millionen an. Das Problem ist jedoch, dass Transparenz immer noch ein Problem darstellt und es unklar ist, ob die Spendenbereitschaft auf Basis ethischer Standards erfolgt. Im Westen verlangen wir eine auf freiheitlichen Grundsätzen und auf ausführlichen Informationen basierende Zustimmung. In China können wir nicht ausschließen, dass Gefangene gezwungen wurden, sich registrieren zu lassen, um Folter zu entgehen, und dass einige Menschen aufgrund des sozialen Drucks unterschreiben. Sie wissen, dass es in China ein Sozialkreditsystem gibt. Wenn man sich als Organspender registriert, verbessert sich der soziale Score. Aber das ist keine freie Zustimmung. Erst recht nicht, wenn man bedenkt, dass der Score sinkt und man Repressalien erwarten muss, wenn man sich nicht sozial oder politisch konform zur kommunistischen Partei Chinas verhält und dadurch der Score niedrig ist. In Europa wird die Verteilung der Organe in acht Ländern zentral von Eurotransplant gesteuert. So soll sichergestellt werden, dass diejenigen Organe bekommen, die sie am dringendsten brauchen.
Gibt es ein solches System in China auch?
China hat COTRS entwickelt, ein computergestütztes System für die Zuteilung von Organen, das jedoch nicht transparent ist. In Europa warten die Patienten auf ein Organ, in China fragt der Patient nach einem Organ, und innerhalb von zwei Wochen wird ein Spender gefunden. Das ist einfach unmöglich, wenn man nur drei bis vier Millionen registrierte Organspender hat, ganz zu schweigen von der Zeit, bevor dieses Spendersystem erfunden wurde. Übrigens fanden Forscher heraus, dass Chinas Organspendesystem so gut funktioniert, dass es zu schön ist, um wahr zu sein. Sie kamen zu dem Schluss, dass es nicht real ist. Im Grunde können wir Eurotransplant also nicht mit Chinas COTRS vergleichen.
Können Sie etwas dazu sagen, wie sich die Organtransplantationszahlen in China in den letzten 20 Jahren entwickelt haben? Gibt es hier Unterschiede zur Entwicklung in anderen Ländern?
Obwohl Chinas Organspendesystem relativ jung im Vergleich zu denen anderer Länder ist, ist es scheinbar um ein Vielfaches effektiver, und das trotz der oben genannten kulturell bedingten Vorbehalte gegenüber der Organspende. China gibt an, weltweit führend in der Organspende-Industrie werden zu wollen. Zurzeit rangiert es auf Platz zwei hinter den USA. Während in anderen Ländern die Zahlen jährlich um circa zehn Prozent ansteigen, steigen in China die Transplantationszahlen viel stärker an.
Die Vorwürfe, die gegen China erhoben werden, wiegen schwer. Gibt es handfeste Beweise für die Aussage, dass es einen systematischen Organraub und -verkauf in China gibt?
Es wurden derart viele Hinweise und Beweise gesammelt, dass es den Rahmen dieses Interviews sprengen würde, sie alle aufzuzählen. In unserem DAFOH-Sonderbericht 2024 haben wir sehr viele aufgeführt. 2019 wurde sogar ein Chinatribunal unter der Leitung von Sir Geoffrey Nice K.C. durchgeführt, welches zu dem Urteil kam, dass Organraub in China stattgefunden hat und weiterhin stattfindet. Falun Gong ist die Hauptorganquelle. Auch die Uiguren sind Opfer von Organraub. Sir Geoffrey Nice K.C. war übrigens auch der Chefankläger von Slobodan Milošević. Wenn beispielsweise ein Kriminalfall vor Gericht verhandelt wird, ist oft nicht ein einziger harter Beweis im Spiel, sondern eine Summe von Beweisen, die die Schuld belegen. Das ist ähnlich wie in unserer Situation. Im Rahmen der Investigationen wurden beispielsweise auch zahlreiche Testanrufe aufgenommen und dokumentiert, in denen explizit Organe von Falun-Gong- Praktizierenden versprochen wurden. Und wenn man 15.000 Dollar extra bezahlen würde, sogar innerhalb von zwei Tagen. Betrachtet man die extrem kurze Wartezeit und bedenkt, dass auch noch Organe einer bestimmten Glaubensgemeinschaft garantiert werden, dann kann niemand wirklich mehr an ein System glauben, in welchem Organe ethischen Standards folgend entnommen und verteilt werden.
Im Sonderbericht von DAFOH ist von einem »Betrugsprotokoll« (Deception Protocol) die Rede. Was hat es damit auf sich?
Dieses Täuschungsprotokoll ist ein Beispiel dafür, wie die kommunistische Partei Chinas (KPCh) vorgeht, um ihren Willen durchzusetzen. In zahlreichen Bereichen zeigt sich dasselbe Muster. Dazu gehört auch der Bereich der Organtransplantation. Im Wesentlichen besteht dieses Täuschungsprotokoll aus fünf Säulen, welche aufeinander folgend durchgeführt werden. An erster Stelle steht zum Beispiel ein Verbrechen gegen Menschenrechte. Sollte Kritik entstehen, dann wird das Verbrechen sofort geleugnet, welches von einer Vertuschungsaktion gefolgt ist. Danach werden Desinformationen über alle verfügbaren Medienkanäle gestreut, um Verwirrung zu stiften oder um die Folgen herunterzuspielen. Der letzte Schritt ist dann, maximale Vorteile und maximalen Profit in jeglicher Hinsicht aus der Situation zu ziehen. Der Grund dieses Täuschungsprotokolls liegt auf der Hand: Durch eine Reihe von vorprogrammierten Schritten, die wie eine Kaskade funktionieren, wird die KPCh-Regierung in die Lage versetzt, Kritik an ihren Praktiken abzulenken, Kritiker abzuschrecken und diese Praktiken ungehindert profitabel fortzusetzen, ohne internationale Regeln und Normen einhalten zu müssen.
China ist ein wichtiger Handelspartner mit wachsendem Einfluss. Gibt es dennoch internationale Reaktionen zu den Vorwürfen?
Zahlreiche Staaten, darunter auch das EU-Parlament, haben die Verfolgung von Falun Gong und den Organraub scharf verurteilt. Neben zahlreichen anderen internationalen Reaktionen wurde zuletzt am 18. Januar 2024 eine EU-Resolution in Brüssel hierzu verabschiedet. Zudem befindet sich gerade ein Gesetzesentwurf im Senat der Vereinigten Staaten zu diesem Thema. Der sogenannte Falun Gong Protection Act. Dieser Gesetzesentwurf beinhaltet zahlreiche Mechanismen, um den Organraub an Falun Gong zu bekämpfen. Bislang ist es jedoch noch nicht gelungen, die KPCh vom Organraub abzubringen. Das liegt unter anderem eben genau an den Handelsbeziehungen zu China. China projiziert seine Macht durch Angst; es bedroht andere Länder. Aber eigentlich ist China ebenfalls von anderen Ländern abhängig. Es könnte also viel mehr getan werden, wenn die Angst beiseitegeschoben und ethischmoralisches Handeln in jeglichen Bereichen über finanzielle Interessen gestellt werden würde.
Gibt es Berichte oder Hinweise, dass es auch in anderen Ländern zu Organraub oder Organhandel kommt?
Es gibt erste Hinweise darauf, dass es in Amsterdam derzeit zu sogenannten »Honigblütenfallen« kommt. Der Vorwurf: Junge Männer würden, häufig in angetrunkenem Zustand, von Frauen verführt und in ein Hotelzimmer oder eine Wohnung gelockt. Dort würden sie betäubt und einer Niere beraubt. Danach würden sie meist in einer Gasse in Amsterdam oder irgendwo am Straßenrand abgelegt. Das bedarf aber weiterer Recherche. Außerdem gibt es im Ausland auch das Phänomen des kommerziellen Organhandels. Aber ein zum Tode führender Organraub wie in China ist uns in anderen Ländern noch nicht bekannt. Denn sobald es dazu käme und es eine Interaktion mit Patienten gäbe, die ein solches Organ kaufen wollten, würden die Polizei und das Rechtssystem eingreifen. China jedoch hat als totalitäre Gesellschaft die Voraussetzungen für den Organraub: Wenn die KPCh sagt, dass der Organraub in Ordnung ist, dann gibt es keine Macht, die sie aufhalten könnte. Die einzige Möglichkeit, dies zu verhindern, ist, dass die Bevölkerung davon erfährt und ein Ende fordert.
Arbeiten Sie derzeit an Projekten, um diesem Verbrechen Einhalt zu gebieten, um den Organraub zu stoppen?
Aktuell haben wir eine Petition in 30 Ländern gestartet mit dem Ziel, die Mauer des Schweigens, welche um dieses Menschenrechtsverbrechen errichtet wurde, zu durchbrechen. Die Petition hat vier zentrale Forderungen, um den Organraub an spirituellen Minderheiten in China zu stoppen, und ist an die Regierungsoberhäupter der G7 + 7 Staaten gerichtet. Wir würden uns sehr freuen, wenn Ihre Leserinnen und Leser sich die Petition unter www.FOHpetition.org genau durchlesen, teilen und unterschreiben würden.