Du sollst töten
Kaum jemand, den das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe kalt gelassen hätte. Die einen jubeln: endlich, so hoffen sie, wird es auch in Deutschland die Möglichkeit geben, sich schnell, sicher und schmerzlos, möglichst mit ärztlicher Hilfe, ins Jenseits befördern zu lassen. Vertreter der Lebensrechtsbewegung, Ärzte, Politiker und Kirchen sind entsetzt.
Das Urteil stellt die bisherige Rechtsprechung in Deutschland auf den Kopf. Bisher galt, dass die Achtung der Menschenwürde selbstverständlich auch demjenigen zukommt, der sich mit Selbstmordgedanken trägt, und dass auch die Tötung eines kranken Menschen seiner ihm eigenen Würde zuwiderläuft. Die Beihilfe zum Selbstmord ist daher mit § 216 unter Strafe gestellt. Das Urteil aus Karlsruhe erklärt dagegen, dass das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ nicht auf „fremddefinierte Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt“ ist. Gleichzeitig machen die Richter für die „faktische Entleerung“ des „Rechts auf Selbsttötung“ die Ärzte verantwortlich. Ihre geringe Bereitschaft
Suizidhilfe zu leisten, sich „am geschriebenen Recht auszurichten“ sondern sich „unter Berufung auf ihre eigene verfassungsrechtliche verbürgte Freiheit einfach darüber hinwegzusetzen“ stünden dem Recht auf Selbstmord entgegen. Deshalb fordern die Richter die Gesetzgeber auf, eine Anpassung der Berufsordnungen der Ärzte und auch Apotheker vorzunehmen, damit „die Verwirklichung der Selbstbestimmung des Einzelnen nicht nur geografischen Zufälligkeiten“ unterliegt. Das läuft auf eine berufliche Verpflichtung von Ärzten und Apothekern hinaus, in Zukunft auch Beihilfe zum Selbstmord zu leisten. Erst Ende Oktober 2019 hat der Weltärztebund bei seiner Generalversammlung in Tiflis ihre Ablehnung des ärztlich assistierten Suizids erneut bekräftigt und darauf hingewiesen, dass Ärzte hierzu nicht gezwungen werden dürfen. Wie der Bund bekräftigt, sind Ärzte dem Leben verpflichtet. Diese Verpflichtung steht zum assistierten Selbstmord in diametralem Widerspruch. Das war den Karlsruher Richtern offensichtlich egal.
Da gleichzeitig mit dem Karlsruher Richterspruch alle Barrieren, die in anderen Ländern für die Inanspruchnahme des assistierten Suizids noch galten, beiseite gewischt wurden, wird ein Arzt nicht einmal mehr die Möglichkeit haben, Menschen, die den Wunsch nach Selbstmord äußern, davon abbringen zu wollen. Ausdrücklich schließen die Richter ja alle Lebens- und Krankheitsphasen in ihr Urteil mit ein. Wie gehen wir zukünftig mit Menschen um, die Tabletten geschluckt haben? Macht sich der Rettungsdienst strafbar, der solche Menschen in die Notaufnahme bringt? Wird der Arzt vor Gericht gestellt, der jemandem bei versuchtem Selbstmord noch Hilfe zukommen lässt? Wie ist das nun mit dem liebesmüden Teenager, der Tabletten geschluckt hat: werden Eltern noch einen Arzt finden, der ihrem Kind den Magen auspumpt – oder wird der mit Blich auf diesen Richterspruch jede Hilfestellung unter Hinweis auf das Recht des Teenagers auf Selbstbestimmung verweigern?
All die Menschen, die in der Suizidprävention tätig sind, werden sich nun fragen müssen, warum sie überhaupt in diesem Bereich tätig sind und nicht einfach allen Menschen dazu raten, doch von ihrem Grundrecht auf Selbsttötung Gebrauch zu machen.