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Die Zukunft der Fortpflanzung

Gentechnik, Lebensforum

Wie eine US-amerikanische Biotech-Schmiede sich anschickt, der Eugenik Tür und Tor zu öffnen

Lange galt sie als etwas ganz Besonderes. Chinesen sahen in ihr  ein Symbol für Reinheit, Eleganz, innere Stärke und moralische  Vollkommenheit. Japaner assoziierten  sie mit Reichtum, Macht und Adel. Das  antike Griechenland brachte sie mit  Fruchtbarkeit und Sexualität in Verbindung. In der christlichen Ikonografie  galt sie als Sinnbild für Erneuerung  und Auferstehung: die Orchidee. Nun  hat ein US-Unternehmen sich nach  ihr benannt. Eines, das nicht weniger  beabsichtigt, als die menschliche Fortpflanzung zu revolutionieren.

LebensForum 156 (IV/2025)

Stefan Rehder

»Ich glaube, dass sich die Menschen  in Zukunft standardmäßig für eine IVF  und ein Embryoscreening entscheiden  werden, um Kinder zu bekommen«,  erklärte »Orchid«-Gründerin und CEO  Noor Siddiqui Mitte September auf  dem Podium des WIRED Health Summit 2025 in Boston. Eskortiert wurde die 31-jährige Informatikerin mit pakistanischen Wurzeln dort von niemand Geringerem als dem 40 Jahre älteren George Church. Das »Enfant terrible« der Molekularbiologie leitet den Bereich »Synthetische Biologie« am Wyss-Institut der Universität Harvard in Boston. 2009 gegründet, beschreibt sich das Institut als »Forschungs- und Entwicklungsmotor für disruptive Innovationen, die durch bioinspirierte Technologien mit visionären Menschen im Mittelpunkt angetrieben werden«.

Menschen wie Church, der gleich zwei Professuren hält. Eine für Genetik an der Harvard Medical School und eine weitere für Gesundheitswissenschaften und -technologie an der Harvard University und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT). Bekannt wurde er 1984, als er als Erster eine Methode zur direkten Genomsequenzierung entwickelte, die zur Entschlüsselung der ersten Genomsequenz führte, der des Bakteriums Helicobacter pylori. Zurzeit arbeitet der 71-jährige Biobastler, der an der Initiierung des »Human Genome Project« (1984) und des »Personal Genome Project« (2005) beteiligt war, an einer Technologie zur Synthese ganzer Gene und zur Konstruktion ganzer Genome, die schneller, genauer und kostengünstiger sein soll als alles, was derzeit auf dem Markt erhältlich ist.

Oder Menschen wie Siddiqui. Aufgewachsen in Tulsa im US-Bundesstaat Oklahoma, studierte sie Computerwissenschaften an der Stanford University in Kalifornien. Zuvor war sie »Thiel Fellow«. »Thiel Fellowship« ist ein zweijähriges Programm, das junge, vielversprechende Gründer und Innovatoren dabei unterstützt, ihre ambitionierten Projekte zu realisieren, anstatt das College zu besuchen. 2011 von dem Technologieunternehmer und Investor Peter Thiel gegründet, stellt es Stipendiaten ein Stipendium in Höhe von 200.000 US-Dollar zur Verfügung und bietet ihnen Zugang zu einem Netzwerk, das aus erfolgreichen Unternehmern, Investoren und Wissenschaftlern besteht. So lernte Siddiqui Church kennen, der auf der Internetseite von Orchid denn auch als »Investor« geführt wird. Das Unternehmen bietet ein sogenanntes Ganzgenom-Screening für im Labor mittels künstlicher Befruchtung erzeugte menschliche Embryonen an. Die Biotech-Schmiede mit Hauptsitz in San Francisco sei »das erste Unternehmen weltweit, das es Eltern ermöglicht, das gesamte Genom eines Embryos zu sequenzieren«, erläutert Siddiqui stolz.

»Nur« 2.500 US-Dollar pro Embryo koste die Erstellung des Risikoprofils, bei dem Orchid 99 Prozent der Basen im Genom eines Embryos sequenziere, verriet Siddiqui unlängst im Interview mit Ross Douthat, Kolumnist der »New York Times« (NYT) und Gastgeber des Anfang des Jahres gestarteten VideoPodcasts »Interesting Times«. Da das menschliche Genom aus rund 3,2 Milliarden Basenpaaren besteht, sequenziert das Unternehmen also pro Embryo rund 3,168 Milliarden davon. Stellt man sich vor, dass jede Base einem Zeichen in einem Text entspricht und eine Buchseite rund 1.500 Zeichen umfasst, dann besäße das »Genom-Buch« eines menschlichen Embryos grob zwei Millionen Seiten. Bei einem Umfang von 300 Seiten pro Band würde dies eine Bibliothek erfordern, die 7.000 Bänden Platz bietet.

Derart umfangreich ist also der Text, den Orchid, um im Bild zu bleiben, anschließend auf »Tippfehler« und »alternative Schreibweise« prüft. Und das geht so: In der Kinderwunschklink des Vertrauens entnehmen die dortigen Fruchtbarkeitsingenieure jedem der zu testenden Embryonen am fünften Tag nach ihrer Laborzeugung fünf Zellen aus dem Trophektoderm, auch bekannt als »äußerer Zellring«. Zu diesem Zeitpunkt besteht der Embryo aus rund 100 bis 150 Zellen. Orchid vervielfältigt sodann die erhaltenen Proben mittels eines patentierten Verfahrens im Labor (»whole genome amplification«), um mehr »Testmaterial« zu erhalten, und unterzieht dieses anschließend einem dreistufigen Testverfahren. Zunächst prüft das Labor jedoch die Qualität der Amplifikation und kontrolliert, ob die Probe sauber und richtig zugeordnet ist. Nach erfolgreicher Amplifikation wird dann die DNA komplett sequenziert.

Maschinen fahnden dabei im »Text« mittels Bioinformatik zunächst nach Chromosomenanomalien. In Stufe zwei wird das Genom nach Krankheiten durchsucht, für die ein einzelnes Gen verantwortlich zeichnet (monogene Erkrankungen). Davon gibt es nach heutigem Wissen rund 1.200. Zusammen machen sie rund vier Prozent aller Erkrankungen aus. Zum Schluss wird das Risiko des Embryos ermittelt, im Lauf seines Lebens an einem polygenetisch verursachten Leiden zu erkranken. Und weil dies an einem »Referenzgenom« gemessen wird, einem Idealmodell, das niemand besitzt, und überdies von epigenetischen Ereignissen abhängt, die eintreten können, aber nicht müssen, lassen sich hier nur Wahrscheinlichkeiten ermitteln. Die Liste der Erkrankungen, für die Orchid auf Wunsch der Kunden »Genetic Risk Scores« erstellt, ist lang und schmutzig. Sie reicht von Brust- und Prostatakrebs über Koronare Herzkrankheit, Fettleibigkeit und entzündliche Darmerkrankungen bis zu Diabetes (Typ 1 und 2), Alzheimer und bipolare Störungen und Schizophrenie. »Es wird verrückt sein, diese Dinge nicht zu screenen«, orakelt Siddiqui.

Drei bis vier Wochen dauert es, bis Orchid Paaren, die sich für eine künstliche Befruchtung und ein GanzgenomScreening entschieden haben, den »Embryo Report« für alle getesteten Embryonen zustellt und ein Gespräch mit einem Humangenetiker angeboten wird. Das bedeutet auch, dass alle Embryonen, die getestet werden, nach der Biopsie eingefroren werden müssen, weil der Zeitpunkt für eine Implantation im selben Zyklus, die Aussicht auf Erfolg böte, längst verstrichen ist. So wie bei Noor Siddiqui selbst. Im Alter von 28 Jahren hat sich die Gründerin von Orchid 20 Eizellen entnehmen lassen. 16 davon wurden erfolgreich mit dem Sperma ihres Ehemannes befruchtet. Keines von ihnen wurde anschließend positiv auf »Retinitis pigmentosa« getestet, eine erblich bedingte degenerative Krankheit der Netzhaut, die mit einem fortschreitenden Verlust der Sehkraft einhergeht und aufgrund derer die Betroffenen im Erwachsenenalter zu erblinden pflegen.

Als bei Siddiquis Mutter diese Diagnose gestellt wurde, besuchte die Orchid-Gründerin gerade die Primary School (Grundschule). Wer kann schon von außen abschätzen, welches Leid oder gar Trauma das für die kleine Noor bedeutete? Vermutlich niemand außer ihr selbst und Gott. Und doch: Siddiquis Entscheidung, ihre Kinder auf keinen Fall mit der Krankheit ihrer Mutter belasten zu wollen, bedeutet zugleich, sich zu der Behauptung aufzuschwingen, ein Leben wie das, welches ihre Mutter geführt hat und das sie selbst hervorgebracht hat, sei es wert, künftig verhindert zu werden.

Mehr noch: Zum passenden Zeitpunkt wünsche sie sich zwei Jungen und zwei Mädchen, verrät Siddiqui NYT-Kolumnist Douthat. Über das Schicksal, das die zwölf anderen erwartet, schweigt sie sich aus. Und was, wenn der »passende Zeitpunkt« nicht kommt? Fragen über Fragen. Nur, dass die heute kaum noch einer zu stellen wagt.

»Sex ist zum Vergnügen da. Orchid und Embryoscreening sind für Babys da«, rekapituliert Siddiqui im Gespräch mit Douthat einen Orchid Werbeslogan. Damit mag man bei Kontrollfreaks in sozialen Netzwerken und im Silicon Valley punkten können. Eine ernsthafte Debatte über Eugenik lässt sich damit nicht bestreiten. Niemand werde gezwungen, Kunde bei Orchid zu werden, sagt Siddiqui, wenn sie auf das Thema angesprochen wird. Auch »verwerfe« das Unternehmen keine Embryonen, die es selbst nie zu Gesicht bekomme. »Tatsächlich rät Orchid« sogar »davon ab, Embryonen aus irgendeinem Grund zu verwerfen«. Mit Eugenik habe Orchid daher »zero« (null) zu tun, behauptet Siddiqui.

Das klingt gut. Nur stimmt es leider nicht. Richtig wäre: Orchid hat die Eugenik nicht erfunden. Schon Platon (428/427 – 348/347 v. Chr.) redet ihr das Wort. In seinem Hauptwerk »Politeia« (dt.: »Der Staat«) fordert er: »Es müssen die besten Männer so häufig als möglich den besten Frauen beiwohnen, die schlechtesten dagegen den schlechtesten so selten wie möglich: Die Kinder der ersteren müssen aufgezogen werden, die der anderen dagegen nicht, sofern die Herde auf voller Höhe bleiben soll« (Platon, Politeia V, 459d–460a).

Wirklich wirkmächtig wird die Eugenik jedoch erst Ende des 19. Jahrhunderts, als Sir Francis Galton (1822– 1911), ein Cousin von Charles Darwin (1809–1882), dessen Evolutionstheorie auf die menschliche Gesellschaft überträgt. In seinem 1869 erschienenen Werk »Hereditary Genius« (dt.: »Genie und Vererbung«), das als die Gründungsurkunde der Eugenikbewegung gilt, versucht Galton zu zeigen, dass geistige Fähigkeiten, Begabungen und sozialer Erfolg erblich seien.

Seine Ideen werden von weiten Teilen der britischen Eliten begeistert aufgenommen. In späteren Schriften, besonders in »Inquiries into Human Faculty and Its Development« (dt.: »Untersuchungen über die menschlichen Fähigkeiten und ihre Entwicklung«) aus dem Jahre 1883, definiert Galton dann erstmals den Begriff »Eugenics« als die »Wissenschaft, die sich mit allen Einflüssen befasst, die die angeborenen Eigenschaften einer Rasse verbessern, sowie mit denen, die sie optimal zur Entfaltung bringen«.

Danach geht es Schlag auf Schlag. 1904 gründet Galton, der 1909 für seine Verdienste in den Adelsstand erhoben wird, am University College in London das spätere »Galton Laboratory«, das nach seinem Tod 1911 von Karl Pearson, einem entschiedenen Gegner der Mendelschen Vererbungslehre, geleitet wird. Bereits 1907 hebt Galton die »Eugenics Education Society« aus der Taufe, die sich später in »British Eugenics Society« umbenennt. Die Gesellschaft gibt bis ins Jahr 1968 hinein die Fachzeitschrift »The Eugenics Review« heraus.

Mit Arthur Balfour, Neville Chamberlain und Winston Churchill gehören der British Eugenics Society zudem ein ehemaliger und zwei künftige Premierminister an. Von Intellektuellen wie Herbert George Wells, George Bernhard Shaw oder John Maynard Keynes, der von 1937 bis 1944 ihr Direktor war, sowie Margaret Sanger und Marie Stopes, den noch viel zu wenig beachteten Müttern der Geburtenkontrolle, ganz zu schweigen.

1912 schließlich erzeugt der erste internationale Eugenik-Kongress in London eine Dynamik, dank derer sich die eugenische Bewegung in vielen Ländern der Erde nahezu spiegelbildlich ausbreitet. Allein die USA sind schon weiter. Dort hat der US-Bundesstaat Connecticut bereits 1896 ein Heiratsverbot für »Epileptiker, Schwachsinnige und Geistesschwache« verabschiedet, das später mit einem Programm zur Zwangssterilisation verknüpft wird, welches dafür sorgt, dass mehr als 100.000 Menschen davon abgehalten werden, sich fortzupflanzen. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs folgten 15 weitere US-Bundesstaaten diesem Beispiel. 1931 sind es schließlich 30.

Und auch jetzt praktizieren Paare häufig Eugenik. Mittels nicht-invasiver Bluttests (NIPT), die in Deutschland, ausgerechnet dem Land, das das »lebensunwerte Leben« erfand, zur Kassenleistung geadelt wurden, genauso wie in Kinderwunschkliniken, die verdeckt oder offen, wie in den USA, fruchtbaren Paaren Geschlechtsselektionen nach Präimplantationsdiagnostik offerieren oder einen »elektiven Single-Embryo-Transfer« (eSET) anbieten, bei dem Fortpflanzungsmediziner den Embryo für die Übertragung in den Uterus auswählen, der unter dem Mikroskop die beste Figur macht.

Glaubt man Siddiqui, handelt es sich bei dem eSET, von der OrchidGründerin auch als »morphologischer Schönheitswettbewerb« verspottet, verglichen mit dem, was ihr Unternehmen Kunden biete, um eine »fast blinde« Wahl. Dass Siddiqui Wettbewerber aus dem Feld zu schlagen sucht und ihr Produkt, das Ganzgenom-Screening, bewirbt, mag man dabei noch für nachvollziehbar und verständlich halten.

Anders sieht das jedoch aus, wenn man das Ganze vollends unter markwirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet. Denn wenn Orchid auch nur annähernd hält, was es verspricht, werden die vor dem Kollaps stehenden Gesundheitssysteme Wege finden, aus dem Angebot eine Pflicht zu machen. Dann wäre der Eugenik Tür und Tor tatsächlich geöffnet. Statt für Auferstehung und Erneuerung stünde die Orchidee dann für Inhumanität und Optimierungszwang.

6. Dezember 2025
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https://www.alfa-ev.de/wp-content/uploads/2025/12/Zukunft-der-Fortpflanzung.png 720 1280 Cornelia Kaminski https://www.alfa-ev.de/wp-content/uploads/2025/07/ALfA-Aktion-Lebensrecht-fuer-Alle-Logo.svg Cornelia Kaminski2025-12-06 14:34:472025-12-12 13:58:51Die Zukunft der Fortpflanzung
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