75 Jahre Grundgesetz. Anmerkungen eines Sozialethikers
In Art. 1, Abs. 2 bekennt sich das Grundgesetz »zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt«. Die Menschenrechte werden also nicht erst durch das Grundgesetz geschaffen. Sie liegen der Verfassung und allem politischen Handeln voraus. Schon ihre Platzierung im Grundgesetz sollte dies zum Ausdruck bringen. Sie stehen am Anfang, mithin vor allen Bestimmungen über die Staatsorgane und ihre Kompetenzen und sie »binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht«, so Art. 1, Abs. 3. Ihre Geltung hängt also nicht mehr vom Gesetzgeber, seinen Aktivitäten und Mehrheiten ab. Sie verpflichten ihn vielmehr, die Freiheitsbereiche zu schützen, die Gegenstand der Grundrechte sind.
Von Manfred Spieker
Das Grundgesetz ist ein Glücksfall der deutschen Verfassungsgeschichte. Mit seinem Bekenntnis zu vorstaatlichen Menschenrechten und zu unmittelbar geltenden Grundrechten ist es eine
»kopernikanische Wende gegenüber der Zeit des Rechtspositivismus«, so Hans Maier beim Katholikentag 1974 in Mönchengladbach. Was beim 25-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes galt, gilt auch beim 75-jährigen Jubiläum. Die Grundrechte des Grundgesetzes spiegeln von ihrem Inhalt wie von ihrer verfassungsrechtlichen Stellung her die Wende der deutschen Politik nach dem Scheitern der Weimarer Republik und den Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft. Sie bringen ein neues Staats- und Menschenverständnis zum Ausdruck, das Konrad Adenauer bereits am 24. März 1946 in einer Rede an der Kölner Universität skizzierte: »Die menschliche Person hat eine einzigartige Würde, und der Wert jedes Menschen ist unersetzlich. Aus diesem Satz ergibt sich eine Staats-, Wirtschafts- und Kulturauffassung, die neu ist gegenüber der in Deutschland seit langem üblichen (…) Der Staat besitzt kein schrankenloses Recht; seine Macht findet ihre Grenze an der Würde und den unveräußerlichen Rechten der Person.“